Prof. Dr. Elif Özmen
Evidenz ist ein Grundbegriff der Philosophie, der sich – wissenschaftshistorisch und soziologisch durchaus anschlussfähig – einfügt in das begriffliche Inventar der „Entzauberung der Welt“. Hierbei fungieren Evidenzansprüche und die ihnen folgenden Praktiken sowohl als Bezugspunkte für die Akzeptanz der konkreten wissenschaftlichen Tätigkeit der einzelnen wissenschaftlichen Akteure und Akteurinnen innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft als auch für die Anerkennung der Wissenschaften durch die Gesamtgesellschaft. Nicht zuletzt spielt Evidenz bei der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Verfahren eine sowohl orientierende als auch legitimierende Rolle. Dass sich Wissenschaften durch bestimmte Evidenz-Appelle ihrer Legitimität und Sinnhaftigkeit, mithin ihrer normativen Berechtigung versichern, stellt den Ausgangpunkt dar für die hier vorgeschlagene Untersuchung der wissenschaftsethischen Kontexte von Evidenz.
Ziel des Projektes ist es, die normativen Dimensionen der Evidenz in zwei Hinsichten zu untersuchen: in ihrer normativen Funktion für das Selbstvertrauen der wissenschaftlichen Vernunft und Handlungspraxis einerseits und für das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaft andererseits. Mit Rückgriff auf den Chiasmus von practicing evidence – evidencing practice wird Evidenz also zunächst als epistemischer Wert analysiert, der sich in verschiedenen Merkmalen des Ethos der Wissenschaften niederschlägt. Als wissenschaftsethischer Kern sowohl der good scientific practice wie auch des good scientist sichert dieses Ethos die Qualität und Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft nach innen und außen normativ ab. Die zu prüfende Leithypothese dieser ersten Untersuchungsperspektive ist, dass das öffentliche Vertrauen in die Institutionen und Mechanismen der wissenschaftlichen Selbstkontrolle auf dem Vertrauen in die Funktionsweise dieses Ethos beruht und eine zentrale Quelle für die gesellschaftliche Legitimität und Anerkennung der Wissenschaft darstellt. Zum anderen werden die normativen Quellen für das gesellschaftliche Vertrauen in die Wissenschaft untersucht.
Ethische Probleme, die bei der wissenschaftlichen Forschung auftreten können, werfen die Frage auf, ob und welche moralischen Evidenzkonzepte einen Zuwachs an Wissenschaftlichkeit – an Rationalität, Eindeutigkeit, Verlässlichkeit – für die angewandte Wissenschaftsethik versprechen. Evidenz als moralische Wertung wird an einem philosophischen Fallbeispiel erforscht: dem Diskurs über die Verantwortung der Wissenschaft und der Wissenschaftler/innen. Diese zweite Untersuchungsperspektive steht unter der Leitthese, dass moralische Evidenzerwartungen (mithin eine evidenzbasierte Ethik der Wissenschaft) eine analoge normative Funktion zu den epistemischen Evidenzerwartungen erfüllen: den moralischen Glaubwürdigkeits- und Vertrauensanspruch, der das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft bestimmt, zu bekräftigen.