TP1: Das Janusgesicht der Partizipation

Evidenzpraktiken in der personalisierten Medizin


Prof. Dr. Mariacarla Gadebusch Bondio, Dr. Tommaso Bruni, Emilia Lehmann


Die Entwicklungen in Molekularbiologie und Genetik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die Verbreitung des Internets und der Social Media seit Beginn des 21. Jahrhunderts haben die Vision einer antizipativen, schon vor der Krankheitsentstehung präventiv wirksamen Medizin befördert. Der Erfolg priva­ter Anbieter von Gentests zeigt, wie die allgemeine Bereitschaft, genetische Informationen als Basis für gesundheitsrelevante, präventive und therapeutische Entscheidungen zu nutzen, gewachsen ist. Damit verknüpft ist der zunehmende Wunsch nach Gewissheit über das eigene genetische Profil (Wesselius/Zeegers 2013).

Eine weitere Folge dieser Entwicklun­gen ist die Partizipation von Laien an Data Sharing-Plattformen. Gesundheitsbezogene Daten werden dort einerseits als Eigentum der Person betrachtet, andererseits me­dial-diskursiv verhandelt oder wissenschaftlich genutzt (Dove et al. 2012a; Kaye et al. 2013). Es konfigurie­ren sich sozioepistemische Arrangements, in denen verschiedene Gruppierungen heterogene gesundheits- und krankheitsbezogene Daten und Dokumente generieren (practicing evidence). Unabhängig davon, ob diese in Grafiken und Statistiken einfließen oder in Form von Krankheitsnarrativen veröffentlicht werden, tragen die darin enthaltenen Informationen für andere Nutzer dieser Online-Plattformen zur Orientierung bei ihren individuellen Entscheidungsfindungen bei (evidencing practice).

Die Forschungshypothese ist, dass Narrative von Krankheitserfahrung emphatische Evidenz vermitteln und ein Wissen generieren, welches der Leidenserfahrung entspringt. Die Wirkung dieser Krankheitsnarrative auf andere Betroffene ist hoch, weil sie durch Empathie zum entscheidungsleitenden und begründenden Kriterium von Handlungen – zur empathischen Evidenz – werden. In dem virtuellen Raum der Data-Sharing-Plattformen werden Informationen vermittelt, deren Qualität und ‚Evidenzgehalt‘ auf einer neuartigen Verschränkung molekulargenetischer Verfahren, persönlicher Erfahrung und dem data for good-Prinzip beruht.

Die medizinethischen Implikationen dieser durch Internet und Social Media global verbreiteten Formen von Evidenzerzeugung bilden den Gegenstand dieses medizinhistorischen und -philosophischen Teilprojektes, in dem Partizipation als Conditio sine qua non für präventive Maßnahmen und als ambivalentes Konzept in Medizin, Gesundheitspolitik und in der globalisierten Patientengemeinschaft erforscht wird. Die Ausgangsthesen sind, dass erstens mit dem Anspruch der Antizipation in der Medizin Forderungen nach individueller Partizipation einhergehen; und dass zweitens die Entwicklung der Personalisierten Medizin im Laufe der letzten 75 Jahre das Ineinandergreifen verschiedener Handlungsfelder und Aktanten, wie Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Patientengruppen, privaten Unternehmen, betroffenen Individuen und Medien, dynamisiert hat. In diesem Prozess einer voranschreitenden Medikalisierung des Lebens und einer Vervielfältigung von Evidenzpraktiken wird die traditionelle Hegemonie des ärztlichen Gesundheitswissens hinterfragt.