AP9: Evidence for use – Evidence for us

 Zur Legitimierungsfunktion von Evidenz für die Wissenschaft


Prof. Dr. Elif Özmen 


Evidenz ist ein zentraler Begriff der Wissenschaft, die sich durch ihre systematische Struktur und methodologische (Selbst-)Kontrolle vor anderen Wissensformen auszeichnet und über die wissenschaftliche Gemeinschaft hinaus gesellschaftliche Glaubwürdigkeits- und Vertrauenserwartungen generiert. Dabei haben Evidenz-Zuschreibungen eine wichtige, aber bislang unterreflektierte Legitimierungsfunktion für die Autorität und Anerkennung der Wissenschaft als Wissenschaft nach innen und nach außen. Das übergeordnete Ziel des Projektes ist es, diese Legitimierungsfunktion der Evidenz mit Blick auf seinen, wie wir es nennen, Appell- und Setzungscharakter zu untersuchen. Zwar gehört Evidenz zu den Konstituentien wissenschaftlicher Forschung, Argumentation und Einsicht. Zugleich gibt es ein Geltungsproblem: Evidenz-Zuschreibungen können ihre Verbindlichkeit nicht nur quid facti, sondern vor allem quid iuris eher behaupten als beweisen. Daher werden wir Evidenz zum einen als epistemischen Wert behandeln, der im scientific ethos verankert ist. Hierbei interessiert uns die normative Funktion der Evidenz für das Selbstverständnis und Selbstvertrauen der Wissenschaften und ihrer zentralen Akteure. Zum anderen geht es um Evidenz als soziopolitisch-ethische Kategorie, d.h. die inner- und außerwissenschaftlichen Formen und Funktionen der Wertschätzung von Evidenz, die nicht nur im Kontext der Genese, sondern vor allem im Kontext der Rechtfertigung und Anerkennung wissenschaftlicher Inhalte und Ergebnisse eine Rolle spielen.

Das lenkt den Fokus der Untersuchung auf die Prozesse, in denen Evidenz „hergestellt“ und als „Evidenz für“ nicht nur innerhalb eines wissenschaftlichen Regelwerkes, sondern auch eines gesellschaftlichen Normengefüges interpretiert und anerkannt wird. Wissenschaftliche Evidenz-Zuschreibungen und Objektivitätsansprüche der Wissenschaften sind soziale Phänomene, die sich mit den Methoden und Begrifflichkeiten der praktischen Philosophie erfassen und untersuchen lassen. Dieses Spannungs- und Interaktionsfeld von evidence for use und evidence for us wird mit einer systematischen Darstellung der Semantiken und Funktionen der Evidenz sowie anhand eines historischen Fallbeispiels erschlossen werden. Damit reagiert das Projekt auf ein zweifaches Forschungsdesiderat, indem es einen praktisch-philosophischen Beitrag zur Evidenz-Forschung mit dem bislang wenig beachteten Untersuchungsfeld der Philosophie der Chemiewissenschaft verbindet.