TP4: Die Rolle der Moralisierung in der Interpretation von ernährungswissenschaftlicher Evidenz


Prof. Dr. Jutta Roosen, Edoardo Maria Pelli


Dieses Projekt untersucht die Evidenzpraktiken der Verbraucher/innen im Feld der Ernährung. Die Ernährung ist eine evolutionär und kulturell tradierte Praktik, die erst seit ca. 100 Jahren mit Erkenntnissen aus den Ernährungswissenschaften gestärkt, konfrontiert und verändert wird. Die Ergebnisse der Phase 1 zeigen, dass Evidenz – verstanden als einleuchtendes und gesellschaftlich akzeptiertes Wissen – als Basis für das Verbraucherhandeln nicht nur ausgehend von wissenschaftlichem Wissen entsteht, sondern vor allem durch Heuristiken und Wertvorstellungen geprägt wird. Dies trifft vor allem dann zu, wenn wissenschaftliches Wissen fragil ist und dem intuitiven Urteil von richtig oder falsch und gut oder schlecht entgegensteht. Um dieser Spannung nachzugehen, weitet das Projekt in der zweiten Phase den Blick von der Lebensmittelsicherheit auf die Destabilisierung von Ernährungswissen insgesamt. Denn es hat sich gezeigt, dass die Standardisierung und Institutionalisierung der Risikoanalyse im regulativen Kontext der Lebensmittelsicherheit weit fortgeschritten ist und den Verbraucher/innen eine passive Rolle zuweist.

Die Hypothese für die zweite Phase ist, dass Verbraucher/innen insbesondere dann, wenn wissenschaftliche Evidenz öffentlich als unsicher und vorläufig angesehen wird, auf eigene, moralisch geprägte Stabilisierungsmechanismen zurückgreifen. Dabei fokussiert das Projekt auf die Rolle von moralischen Werten auf Basis der Moral Foundation Theory. Die Rolle von durch Moralisierungen vorgenommenen (Be)Wertungen in 1) der Interpretation, Annahme und Ablehnung von wissenschaftlichem Wissen, 2) der Beurteilung und Nutzung von Informationsquellen  und 3) (moralischen) Abwägungen über die Relevanz von Wissen über gesundheitliche und ökologische Folgen lassen sich so exemplifizieren. Methodisch wendet sich das Projekt einem  quantitativen Ansatz zu. Nach vorbereitenden Fokusgruppen wird zunächst das Verhältnis zwischen subjektivem Wissen und Überzeugungen über Ernährung und moralischen Werten in einem  interkulturellen Vergleich (Deutschland/China) untersucht. Die moderierende Rolle moralischer Werte für den Einfluss wissenschaftlichen Wissens wird dann im Rahmen eines experimentellen Designs überprüft.

Das Projekt nimmt die stabilisierende Rolle von (Be)Wertungen in den Blick, mit denen sich Verbraucher/innen auf die Vorläufigkeit des Wissens in den Ernährungswissenschaften einstellen. Es trägt so zum Verständnis unterschiedlicher Evidenzkulturen und der Entstehung von Evidenzkritik bei, indem es den Umgang von Verbraucher/innen mit wissenschaftlicher Evidenz untersucht,  wenn diese existierenden Wissensbeständen entgegensteht.